Die Geschichte der Vereinsfahne und die Inflation 1922
Eine Fahne war für einen Verein in Deutschland anno 1920 sehr wichtig
In den Jahren 1920–1930 hatten Fahnen in Deutschland Hochkonjunktur. Man darf nicht vergessen, dass es 1920 noch nicht mal Rundfunk in Deutschland gab. Umzüge oder Demonstrationen waren die einzige Möglichkeit sich der Öffentlichkeit zu präsentieren. Darüber wurde dann in der Zeitung berichtet. Die Fahne war ein direktes Signal, seiner Meinung in der Öffentlichkeit Nachdruck zu verleihen.
Wie wichtig Fahnen damals waren, geht aus Kommentaren von Zuschauern beim Umzug anlässlich der Fahnenweihe hervor. Im Bericht darüber im Protokollbuch heißt es wörtlich: Es war ein Festzug, von dem so mancher Andersdenkende aber Gutgesinnte sagte: „Einen solchen Zug bei den heutigen Zeitverhältnissen zu sehen, läßt einen das Herz in Freude schlagen.“ [1]. In dem Umzug marschierte ein Block von 27 Fahnen mit! [6]
Am 4. März 1921 erscheint die Vereinsfahne das erste Mal in einem Protokoll. Dort wird 50 ℳ für die Gründung eines „Fahnenstandes“ von einem unbekannten Gönner gestiftet [2]. Eine Sammlung extra für die Fahne erbringt daraufhin weitere 64,30 ℳ.
Am 8. September 1921 wird man konkret. Es heißt unter Punkt 3 der Tagesordnung wörtlich: „Schon seit längerer Zeit trägt sich der Verein mit dem Gedanken, wenn möglich im nächsten Jahr Fahnenweihe zu feiern. Dahingehend wird heute der Beschluß endgültig gefasst. Der festzusetzende Tag der Fahnenweihe soll später festgesetzt werden“ [3].
Die Sache wird in der Generalversammlung vom 4. November 1921 „heiß“. Die Beschaffung ist Hauptthema dieser Generalversammlung [4]. Es wurden vom Vorstand Angebote von Fahnenherstellern eingeholt. Diese schwankten zwischen 3.500 ℳ und 6.000 ℳ.
Wie war die finanzielle Lage, 1921–1922?
Es gab Inflation in Deutschland. Die Inflation wurde vor allem von der Weimarer Republik wissentlich in Kauf genommen, um die enormen Staatsschulden, eine Folge vom 1. Weltkrieg, abzubauen [5]. In den Jahren 1921–1922 gab es allerdings zunächst eine gewisse Erholung, weil die Inflation auch als Zwangs-Lohndumping gewirkt hat und das Wirtschaftswachstum in Deutschland dadurch höher war als in den Siegerländern.
Anfang 1923 wurde die Sache sehr ernst, als französische und belgische Truppen das Ruhrgebiet besetzt haben, weil Deutschland seine Reparaturzahlungen, zu denen es durch den Versailler Vertrag verurteilt worden war, nicht nachkommen konnte. Die als „Hyperinflation“ in die Geschichte eingegangene Geldentwertung wurde am 15. November 1923 gestoppt indem die „Papiermark“ durch die „Rentenmark“, - die spätere Reichsmark -, abgelöst wurde.
Zur konkreten Lage bis zum 4. November 1921: Die Mitgliedsbeiträge eines Gesellen wurden unmittelbar nach Vereinsgründung in der 1. Versammlung am 22. April 1920 auf 1 ℳ/Monat festgelegt. Die Eintrittsgelder für das Gründungsfest betrugen 2 ℳ für Vereinsmitglieder, 3 ℳ für sonstige Besucher. Beim Gründungsfest am 20. Juni 1920 gab es einen Reingewinn des Abends von 203 ℳ. Das „Heizungsgeld“ im Goldenen Löwen betrug am 28. Oktober 1920 3 ℳ/Abend. Bei der Gründung des „Fahnenstandes“ am 4. März 1921 kamen 94,30 ℳ zusammen.
Das Stiftungsfest am 24. April 1921 erbrachte netto 124,20 ℳ . Der „Fahnenstand“ beträgt 322,20 ℳ laut Protokoll der Jahreshauptversammlung am 6. Mai 1921. Es müssen also noch weitere Spenden oder Sammlungen stattgefunden haben, die nicht im Protokollbuch erwähnt sind.
Versammlung am 3. Juni 1921: Eine Sammlung erbringt 38 ℳ für die Fahne. Am 22. Juli 1921: 30,50 ℳ gesammelt und weitere 31 ℳ im Briefkasten für die Fahne. Für das Sommervergnügen vom 28. August 1921 wird der Eintritt auf 2 ℳ, das „Tanzgeld“ auf 3 ℳ bzw. 4 ℳ für Vereinsfremde festgesetzt. Das Fest bringt 355 ℳ Reingewinn ein, die für die Fahne bestimmt sind.
Die Inflation macht sich in den Protokollbüchern vor allem Ende 1921 bemerkbar. Es wird ein Bunter Abend organisiert, dessen Reingewinn der Fahne zu Gute kommen soll. Die Eintrittspreise sind: Sperrsitz 7,70 ℳ, nummeriert 1. Platz 5,50 ℳ nummeriert 2. Platz 3,30 ℳ. Am 3. Februar gibt es dann die erste massive Beitragserhöhung, und zwar rückwirkend, auf 3 ℳ monatlich.
Schließlich müssen die Eintrittspreise für das Fest der Fahnenweihe am 25. Juni 1922 erwähnt werden: „Eintritt 7 ℳ mit Programm; Tanzgeld 10 ℳ für Vereinsmitglieder und Gäste 15 ℳ für Fremde“ [6]
Die Beschaffung der Fahne am 4. November 1921
Nach Prüfung der vorliegenden Angebote, wie vorhin erwähnt, wurde beschlossen, die Fahne bei der „Tribianischen Fahnenfabrik“ im Auftrag zu geben, um der einheimischen Industrie den Vorzug zu geben. Es war schon ein Vertreter dieser Firma zugegen, mit dem über Preis und Ausstattung der Fahne verhandelt wurde.
Wie viel sie letztendlich gekostet hat, geht aus keinem Bericht im Protokollbuch hervor.
Sicher ist, dass die Finanzierung zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgedeckt war. Es wird eine „Zeichnungsliste“ aufgestellt, in der sich jedes Vereinsmitglied eintragen muss. Jeder muss in Raten von 6–7 Monaten die Fahne mitfinanzieren. Wie viel, wird nirgendwo gesagt.
Die Fahnenweihe am 24./25./26. Juni 1922
In der Generalversammlung vom 6. Januar 1922 wird das erste Mal ein Datum für die Fahnenweihe genannt: Am 25. Juni 1922. Die konkrete Planung wird in der Generalversammlung vom 7. April 1922 vorgestellt [7]:
Festkommers am Samstag, den 24.;
Hochamt und Weihe in der Kirche, Umzug durch die Stadt, eigentliches Fest in der Krone am Sonntag, den 25.;
Dampferfahrt auf der Weser am Montag, den 26.
Eine Fahnendeputation wird festgelegt. Die Fahnenweihe wird vom Verein also als viel wichtiger gesehen als z.B. das Gründungsfest 1920 oder das erste Stiftungsfest in 1921. Das Stiftungsfest 1922 wird sogar wegen der Fahnenweihe auf einen einfachen Familienabend zurückgestuft.
Schließlich gibt es in der Generalversammlung vom 9. Juni 1922 einen Bericht vom Festkomitee über den Stand der Vorbereitungen. Demnach haben sich bisher 28 Vereine angemeldet. Die Kolpingbrüder werden aufgefordert Nachtquartiere für sie bereit zu stellen. [6]
Es ist eine Stadtführung für die auswärtigen Gäste geplant. Ein Triumphbogen soll gebaut werden, „am Eingang in die Stadt am alten Turme“ (Kronenturm?). Kolpingbrüder werden für die praktischen Arbeiten eingeteilt und um eine Wache zu stellen, die das Tor 2 Tage vor der Veranstaltung bewachen muss.
Über die Fahnenweihe selbst, am Wochenende vom 24.–26. Juni, gibt es im Protokollbuch einen ausführlichen Bericht [1]. Das Fest verlief im Großen und Ganzen wie geplant. Es muss ein großer Erfolg gewesen sein. Der Triumphbogen wurde tatsächlich gebaut und der Kommers am Sonnabend hat stattgefunden.
Lediglich trübte das Regenwetter, was am Ende des Festzuges eingesetzt hatte, den weiteren Verlauf etwas. Das Gartenfest konnte dadurch nicht stattfinden. Die Säle der Krone waren dagegen für die zahlreichen Gäste zu klein.
Das Fest erbrachte ein Defizit von 687 ℳ, war die Inflation Schuld daran?
Bei aller überschwänglichen Freude im Bericht des Festes über den Erfolg der Feier, kam die Ernüchterung auf einer außerordentlichen Generalversammlung am 21. Juli 1922 recht bald.
Dort lautete die Abrechnung nüchtern: 9.727,45 ℳ Ausgaben, 9.040,45 ℳ Einnahmen, Fehlbetrag: 687 ℳ. Damit war der ganze „Fahnenstand“ vom Sommer 1921 vernichtet. Es wurde erneut eine Sammelliste aufgestellt, wo die Vereinsmitglieder für den Verlust decken mussten [8].
Wie kam das zu Stande?
Sicherlich mag der Bericht über das Fest etwas zu beschönigend gewesen sein. Fest steht, dass die Säle der Krone zu klein waren, um die Gäste zu fassen. Andererseits hat der Regen weniger Tanzende mit extra Tanzgeld-Einnahmen aufs Parkett gebracht. Geplant war wohl im Garten zu tanzen; in den Sälen war weniger Platz und machte nicht so viel Spaß. Aber dennoch: „Und dann wurde getanzt bis - - -“
Vielmehr hat die Inflation einen Strich durch die Rechnung gemacht, zwischen dem Zeitpunkt der Festlegung der Eintrittspreise am 9. Juni und der Abrechnung, nach dem 25. Juni.
Das die Inflation zu diesem Zeitpunkt in vollen Galopp kam, geht aus einem Bericht einer anderen Generalversammlung am 7. Juli 1922 hervor [9]. In diese Versammlung, obwohl näher zum Fest als die Abrechnung am 21. Juli, wird kein Wort über das Fest verloren, dafür heißt es unter Punkt 2) der Tagesordnung:
„Die Vertreter der Vereine auf dem 1. Internationalen Gesellentag in Cöln haben eingesehen, dass ein fortdauerndes Defizit des Verbandes unterbleiben muss. Deshalb ist in Cöln beschlossen worden, dass der Verbandsbeitrag, je nach dem wie die Geldentwertung fortschreitet, steigen darf, ohne dass dazu ein Beschluss von höher stehender Seite dazu erforderlich ist.“
Das spricht Bände …
Joseph Lemoine, Archivar (2012)
Kolpingsfamilie Hann. Münden
Quellen-Nachweis:
[1] Protokollbuch I, Seite 125
[2] Protokollbuch I, Seite 75
[3] Protokollbuch I, Seite 99
[4] Protokollbuch I, Seite 104
[5] Siehe Wikipedia zu dem Thema [Deutsche Inflation 1914 bis 1923]
[6] Protokollbuch I, Seite 120
[7] Protokollbuch I, Seite 115
[8] Protokollbuch I, Seite 128
[9] Protokollbuch I, Seite 123